Mit dicken Klunkern in der Rumpelkammer

Kunst

Einer meiner Lieblingsautoren ist Ephraim Kishon. Seine Satiren sind fabelhaft. Dabei ist die Geschichte, bei der seine Familie von einer entfernten Tante ein recht eigenwilliges Bild geschenkt bekommt, eine meiner Favoriten. Denn was macht man mit einem überdimensionalen Gemälde, das den eigenen Geschmack nicht unbedingt widerspiegelt? Richtig, man verbannt es in die letzte Ecke der Rumpelkammer und hängt es nur dann auf, wenn die Tante zu Besuch kommt. Was macht man allerdings, wenn der Kunst-Mäzen mit dem Beschenkten unter einem Dach wohnt?

Unser Heim ist eine Galerie und wir die Galeristen

Der Stenz bastelt gerne. Ob malen, kleben, kneten, matschen, hämmern, schnitzen oder sprühen, alles, was mit den Händen hergestellt werden kann ist großartig. Doch genauso leidenschaftlich, wie er bastelt, liebt mein Kind es, dass selbst Produzierte zur Schau zu stellen und publikumswirksam in Szene zu setzen. Während bei anderen Eltern die kindliche Kunst in Boxen unter der Couch gelagert wird, legt unser Sohn gesteigerten Wert darauf, seine Kunstwerke seinen Mitmenschen zu zeigen. Denn nicht nur auf die Geschicklichkeit, auch auf die entsprechende Präsentation kommt es an! Dabei ist unser Haus, seiner Ansicht nach, der perfekte Ausstellungsort.

Performance Art vor der Haustür

Dass wir einen begnadeten Kunsthandwerker unter unserem Dach beherbergen, merken unsere Gäste bereits vor der Eingangstür. Denn hier hat sich im Lauf der letzten Jahre eine Vielzahl an verschiedensten Kunstobjekten auf mysteriöse Weise eingefunden. Sie alle verbinden sich zu einer facettenreichen Installation, die von einer ganz besonderen ökologischen Ästhetik zeugt. Das etwas zerrupfte Vogelnest wird kontrastiert von goldenen Steinen, die schamhaft unter 5.000 Stöcken und 200 Schnitzereien hervorlugen. Ein bisschen Moos, Kastanien, Baumrinde und am See gesammelte Glasscherben, die herrlich in der Sonne funkeln, gesellen sich ebenfalls zu dieser naturnahen Art-Kollektion. Nicht selten stolpert man in unser trautes Heim, weil die Kunst vor unserem Haus übermächtig wird und den Zugang versperrt. So nehmen unserer Besucher, ob sie wollen oder nicht, aktiv an einer lebendigen Art-Performance teil, die die Betrachtungsweise Darwins neu interpretiert: Nur dem Geschicktesten gelingt es, die heimische Türschwelle zu betreten.

Um Restmüll wird gebeten

Dabei wird seit einiger Zeit unser Art-Sammelsurium durch ein ganz besonderes „Oeuvre“ komplettiert. Vor ein paar Tagen zog sich der Stenz nämlich für eine neue Kreation in sein Zimmer zurück und malte voller Elan Schriftzüge von unserem Müllplan ab, die sich bei näherer Betrachtung als folgende, handsignierte Mitteilung entpuppte: „Restmüll hier – Vochrrrx“. Ich sollte das wertvolle Gemälde noch mit dem aktuellen Datum und dem Zusatz „Winter“ versehen (sodass das Werk im Stenz’schen Kunst-Zyklus des Jahres 2018 auch für die Nachwelt richtig eingeordnet werden könne). So weit, so gut. Nicht gut wurde es allerdings, als der Stenz auf die Idee kam, dieses wunderbare Pamphlet nun an der Außenmauer unseres Hauses zu befestigen. Ihm schwebte vor, die Mitteilung solle für alle Spaziergänger gut lesbar oberhalb unseres Briefkastens angedübelt werden. Dabei war ihm das Dübeln sehr wichtig. Der Mann wollte aber nicht dübeln und alle Vorbeiziehenden ermutigen, Restmüll vor unserer Haustüre zu deponieren. Bittere Enttäuschung machte sich in den Augen des Künstlers breit. Und da wir, die Galeristen, am Abend schon ein wenig mürbe waren, ließen wir uns breitschlagen. Es wurde zwar nicht gedübelt, aber wenigstens geklebt. So finden neuerdings nur diejenigen Einlass in unser Haus, die ein wenig Restmüll am Eingang ablegen und so geschickt sind, die gesammelten Stock-Berge zu überwinden.

Leere Klopapierrollen? Her damit!

Doch der zu uns Hereinstolpernde muss beim Eintreten nicht traurig sein, dass er die aufgetürmte Kunst vor dem Haus aus dem Sichtfeld verliert. Denn er stößt auch im warmen Inneren unseres Heimes auf sehr viel artistisches Material. Dabei steht ein signifikanter Teil unserer „Home-Art“ unter dem Motto: „Das unerschöpfliche Potenzial von Klopapierrollen“. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein eifriger Sammler eben dieser werde. Während andere Leute Sonnenbrillen, Whisky oder Antiquitäten hamstern, stürze ich mich seit geraumer Zeit auf leere Klopapierrolle und bin selbst in Wellnesshotels versucht, die ollen Papp-Dinger in meinen Koffer zu schmuggeln, um der Stenz’schen Bastel-Euphorie neue Impulse zu geben. Dabei scheint die Kreativität meines Kindes grenzenlos und zeigt sich in einer Art Arche Noah aus Klopapier-Tieren: Ob Küken, Drachen, Kraken, Elefanten, ja sogar Schneemänner, warten bei uns weltenhungrig darauf, in See zu stechen.

Das sommerliche Weihnachtsbaum-Pendant

Dabei frage ich mich immer wieder, wie andere Eltern es schaffen, dass ihr Haus diesen cleanen Chic aus „Vor-Kinder-Zeiten“ beibehält? Wir schaffen es jedenfalls nicht. Denn die skulptural-animalische Kunst, die aus Klopapierrollen unser Wohnzimmer schmückt, findet eine entsprechende Ergänzung an fast allen Wänden unseres Hauses. Denn da, wo zwischen schiefen Familienfotos und lustigen Kinder-Portraits noch Platz ist, hängen bunte Collagen, Kartoffeldrucke und selbst Gemaltes. Sogar unsere beiden Zitronenbäumchen wurden atmosphärisch vom Stenz verziert. Ganz so als würden sie sich, dank handgefertigter Mobilés, als sommerliches Pendant zum Weihnachtsbaum verstehen.

Wer lang hat, lässt lang hängen

Doch die Stenz’sche Kunst orientiert sich nicht nur an Türschwellen, Wänden und Pflanzen – nein, sie macht auch vor mir nicht halt. So wurde ich heute Morgen von meinem Sohn ermuntert, mich für den bevorstehenden Besuch ein wenig chic zu machen. Zu diesem Zweck solle ich mir ein ganz besonderes Geschmeide anlegen bzw. an die Ohren hängen. Und so baumeln nun zwei unterschiedlich große, verschiedenfarbige und sehr, sehr auffällige Riesen-Klunker an meinen Lauscherchen herunter. Selbstverständlich wurde auch diese kostbare Bijouterie vom Stenz selbst aus Fimo hergestellt.  Sein Entzücken kommentierte er bei meinem Anblick wie folgt: „Ach Mami, hoffentlich bekomme ich später auch mal so eine hübsche Mama wie Dich.“ Ja, da muss er lange suchen, bis er eine Frau findet, die so einen erlesenen Geschmack hat. Vergiss alle perlenbeohringten Frauen. Understatement war gestern! „Wer lang hat, lässt lang hängen“ hat mal eine Freundin zu mir gesagt und mit dieser Devise entscheide ich mich mutig, unsere Freunde mit den neuen Klunkern zu begrüßen. Allerdings fällt mir bei meinem Anblick im Spiegel Ephraim Kishon wieder ein. Ich bin mir sicher, er hätte mich in die letzte Ecke der Rumpelkammer verbannt!

Glücksmomente

Happy Family

Ich mag eigentlich keine rührseligen, kitschigen Texte, in denen Mütter ihre Kinder in den Himmel loben und jeden Pups des eigenen Fleisches und Blutes sezieren, bestaunen und mit inniglicher Liebe für die Nachwelt festhalten. All, denjenigen, denen es ähnlich geht wie mir, rate ich daher vom Lesen des nachfolgenden Textes dringend ab! Denn er ist vor allem für meine Kinder geschrieben. Wenn sie mich irgendwann einmal fragen: „Wie war das denn damals so mit uns?“ Dann werde ich mich verrunzelt zurücklehnen, versonnen lächeln und sagen: „Das war alles ziemlich schön!“

Das Baby wird Loulotte

Ich bin ein larmoyantes Meckermaul, obwohl ich nichts zu meckern habe. Denn ich lebe mit zwei wunderbaren kleinen Geschöpfen und einer großen, nicht minder wunderbaren Kreatur, an einem paradiesischen Fleckchen Erde. Meine Kinder amüsieren mich und rühren mein Herz. Denn während ich, seit ich Mama bin, hin und wieder etwas abschlaffe und matschig in der Gegend umherlaufe, sind meine Kinder ein Quell unendlicher Energie, Freude und die personifizierte Lebenslust. Vor allem das Baby lief in den letzten Monaten zu Höchstformen auf. Quasi von null auf hundert. Von Geburt an, mit einer außergewöhnlichen Haarpracht gesegnet, besitzt meine Tochter mit ihren 14 Monaten einen so dichten braunen Schopf, dass es Martin Schulz vor Neid die Tränen in die Augen triebe. Und auch Dieter Bohlens Beißerchen würden durch das weiße Lachen meines Zweitgeborenen in den Schatten gestellt – und das obwohl ihr Lachen bislang noch eckzahnlos erstrahlt (jedenfalls unten). Daher ist es nun an der Zeit, dass das Baby offiziell den Säuglings-Status verlässt und die Metamorphose zu Loulotte oder Fräulein Lou (ich bin mir noch unschlüssig) vollzieht. Fräulein Lou nutzt ihre kleinen Hauer nicht nur, um sich hin und wieder gegen die tätlichen Angriffe und Liebesbekundungen des Stenzes zu verteidigen, nein sie macht von ihnen in erster Linie Gebrauch, um zu essen – und zwar mit großem Entzücken.

Essen macht Freude Punkt!

Während ich gestern Abend meine Phantasie vollends ausschöpfte und Feen, Zauberer und sonstige Fabelwesen dazu einlud, eine lustige Rutschpartie auf einem Marmeladenbrot die Speiseröhre des Stenzes hinunterzurasen, nutzte Fräulein Lou den unbeobachteten Augenblick ganz für sich: Sie schnappte sich den gesamten Camembert, der das abendliche Buffet komplettierte und biss herzhaft hinein. Allerdings bemerkte ich diesen Umstand erst, als der halbe Camembert bereits frohgemut vertilgt war. Aufgrund ihrer Vorliebe für französischen Weichkäse und feinsten Wachholder-Schinken nennt sie ihr Opa auch liebevoll „Schinke-Marie’sche“ (hessisch ausgesprochen!) oder „Camemberta“. Denn während mein Sohn nur zu speisen gedenkt, wenn ich ihm vorlese oder seltsame Geschichten erzähle, schlägt Fräulein Lou vollkommen nach ihren Eltern und isst mit großer Wonne, was ich unglaublich sympathisch finde. Vor allem, wenn meine Tochter beim Verzehr von leckeren Köstlichkeiten mit einer Inbrunst „mmmmhhh-Laute“ aus den Tiefen ihrer kleinen verzückten Seele ertönen lässt. Sie ist sozusagen in das perfekte Umfeld hineingeboren. So gerät sie auf unseren Wellnessreisen immer wieder vor kulinarischer Begeisterung in Ekstase. Ihr beim wonniglichen Essen zuzuschauen ist einfach großartig! Und auch wenn sie vor Glück brummt wie ein Bär bin ich kurzzeitig versucht, mit einzustimmen und das Lied der glücklichen Grizzlys zu grummeln. Außerdem berührt es mich zutiefst, dass alles, was Loulotte liebt, bislang noch „Mama“ heißt. Ob Papa, der Stenz, ihre heißbegehrte bunte Blockflöte, die kleine Schlange aus der Holzdose, der Wachholder-Schinken – all das verdient die wunderbare, oft leicht nasal aber immer flammend hervorgebrachte Bezeichnung „Mama, ohhh!“

Über fröhliche Cowbäuerinnen und Fahrten in der Waschmaschine

Doch am schönsten ist es, die beiden Geschwister in trauter Zweisamkeit zu beobachten und dabei genaue Tätigkeitsbeschreibungen à la : „Mama, wir spielen Cowbäuerin und Kuh. Loulotte ist die Cowbäuerin und ich die Kuh.“ entgegenzunehmen. Aufgrund des freudetaumelnden Gesichtchens von Loulotte, die rittlings auf dem Bruder sitzt, bin ich zeitweilig versucht, die Berufsbezeichnung „Cowbäuerin“ in den Jobcentern dieser Welt als neue, Glück bringende, rurale Berufsbezeichnung zu propagieren. Überhaupt ist der Stenz seinem kleinen Geschwisterchen gegenüber meist (nicht immer) sehr fürsorglich eingestellt. Vor ein paar Wochen weinte er gar bitterlich und rief mich in vollkommener Verzweiflung, ich solle unverzüglich seine Schwester retten. Diese sei nämlich gerade dabei, frohen Mutes die Waschmaschine zu besteigen und eine quirlige Fahrt in der runden Trommel zu absolvieren. Auch wenn Loulotte gemäß der Stenz’schen Einschätzung hin und wieder „abgöttlich“ stinke, habe sie ein derart burschikoses und unsanftes Reinigungsritual doch nicht verdient und ich solle sie vor dem Verderben bewahren.

Tumber Tor, such’ mich!

Denn mit wem solle er sonst in Zukunft wohl verstecken spielen? Lediglich seine Schwester scheint in unserer Familie eine echte Spürnase zu sein. Während der Mann und ich wie tumbe Tore in unserem Wohnzimmer umherirren und erst nach einem halbstündigen Such-Marathon den Stenz aus seinem präferierten Versteck, hinter dem Vorhang hervorzaubern, ist seine Schwester weitaus zielstrebiger. Außerdem lässt sie sich im Moment des Auffindens, so fabelhaft erschrecken. Auf das große „WUAAAHHH“ des Stenzes folgt immer eine nicht enden wollende Lach-Salve von Fräulein Lou. Überhaupt ist Loulotte ein sehr solidarisches Wesen: Sobald der Stenz und ich lachen, freut sie sich aus purer Solidarität mit, egal um was oder wen es geht – selbst dann, wenn sie im Zentrum des Gelächters steht. Aber wehe der Stenz weint, dann ist Gefahr in Verzug und es wird nach Leibeskräften, mit Vorliebe in einer sehr hochfrequenten Tonlage, mitgebrüllt.

Hmm, lecker Papilloten

Man sagt ja immer, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten sei so unglaublich bereichernd. An diesen Spruch dachte ich auch heute Morgen als Loulotte mit überbordender Neugierde in unser grünes Badewannen-Krokodil biss und sich anschließend schlapplachte. Wofür das in ihren Augen wohl gut sei? Als Anti-Ausrutsch-Schutz jedenfalls nicht. Und auch die bunten Papilloten, die sie vor dem Vergessen bewahrte und aus den Untiefen unseres Badezimmerschrankes hervorzog, mussten sich erstmal eines genauen Beiß-Testes unterziehen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schmeckte das Badewannen-Krokodil wesentlich besser.

Gefühle hoch hundert

Ich habe bei meinen Kindern immer irgendwie das Gefühl, dass sie ihre Emotionen in potenzierter Form erleben: Freude, Trauer, Neugierde und Stolz hoch hundert oder so. Allein am Abend ist Fräulein Lou derart erbost, wenn ich es wage, nach zehn Minuten der Streicheleinheiten ihres Hinterköpfchens kurzzeitig zu pausieren. Denn sie liebt es, platt wie eine Flunder auf dem Bauch liegend, wohlig in den Schlaf gestreichelt zu werden. Aber wehe ich lege eine kleine Pause ein, dann wirft sie sich mit so viel Pathos wieder auf die Matratze ihres Bettchens und verlangt nach der Fortsetzung der angenehmen Kopfmassage. Als Dank, schläft sie dann auch ruckzuck ein. Ein Umstand, den ich fast noch schöner finde als ihr freudvolles Essen.

Der Augenstern schiebt den „römischen Streitwagen“

Selten zuvor habe ich so viel Stolz in den Augen funkeln sehen, wie bei meinen Kindern. So schiebt Fräulein Lou ihren Bruder mit einem fast berstenden Selbstbewusstsein in ihrem kleinen blauen „Streitwagen“ quer durch unser Wohnzimmer. Stolz wie Bolle ist sie auch, wenn sie an beiden Händen vom Stenz gehalten, ihre ersten Schritte durch das Kinderzimmer tapst. Als Dank wird der Stenz anschließend an der Wange gestreichelt, was den großen Bruder wiederum zu den Worten verleitet: „Ich liebe Dich so sehr mein Augenstern.“

Ich weiß, dieser Text ist eine Zumutung und Sie sind in den letzten fünf Minuten durch triefende Inniglichkeit gewatet. Aber ich habe Sie ja vor der Lektüre gewarnt!

Zum Spießer mutiert? Oder: Eine Hommage an WG-Zeiten

Hommage an die Kaiser-WG

Was ist aus mir geworden? Vor zehn Jahren lebte ich in einer Neuner-WG und lernte schon in meinen eigenen vier Wänden jeden Tag neue Leute kennen. Mein unmittelbarer Nachbar war ein Franzose mit chinesischen Wurzeln. Links hinten am Ende des Flurs lebte ein Italiener, der jede Nacht eine andere Couch-Surferin aus exotischen Destinationen bei sich beherbergte. Bevorzugt mit fabelhaftem Aussehen. Dabei hauste der Italiener selbst in einem circa sechs Quadratmeter großen Unterschlupf, der ehemals als Küche diente. Weiße Fliesen zierten noch bei seinem Einzug die Wände, eine heimelige Reminiszenz an die frühere Koch-Ära. Den Couch- Surferinnen war das Kajütenartige dieses Verschlags wurscht und dem Gastgeber ebenfalls. Platz ist ja bekanntlich in der kleinsten Hütte. Da störte auch der leichte Gas-Geruch, der aus einer defekten Leitung austrat, kaum. Überhaupt war uns allen vieles Wurscht. Der Zustand der Küche zum Beispiel oder wann der Flur das letzte Mal geputzt wurde. 

Tür an Tür mit der griechischen Kreissäge

Doch der Reihe nach. Ich bin nicht sehenden Auges in diese Neuner-WG geraten. Eine sehr schöne Zeit in meinem Leben übrigens. Zum Zeitpunkt meines Einzugs beherbergte die Altbauwohnung im Herzen von Schwabing gerade einmal vier andere Mitbewohner. Drei davon kannte ich und einen bekam ich nie zu Gesicht. Bei ihm handelte es sich um den „schnarchenden Griechen“. Er war ein scheues Wesen höheren Alters, von dessen Existenz wir lediglich durch seine kreissägenartigen Geräusche wussten. Der Grieche schnarchte am Tag und in der Nacht. Er verschnarchte auch den Zeitpunkt als unsere Fünfer-WG ganz plötzlich zu einer Neuner-WG mutierte. Ich kam abends nach Hause und erblickte auf einmal im Flur eine durchbrochene Wand. Dabei muss man wissen, dass die Vermieterin meiner damaligen Bleibe recht gierig war. Sie verlangte für mein zehn Quadratmeter-Zimmer stolze 400 Euro, wobei die anderen Zimmer teilweise noch teurer waren. Und da ihr die zimmerweise Vermietung in bester Lage Münchens als sehr lukrativ erschien, ließ sie kurzerhand von ein paar  Schwarzarbeitern in einer Nacht- und Nebelaktion, die Wand zu einer anderen zimmerreichen Wohnung durchbrechen. Aus zwei mach eins sozusagen.

„Les escargots du Portugal“

Mit einem gewissen Phlegma nahmen wir die wohnlichen Änderungen hin und harrten der Dinge, die da kamen. Und sie kamen aus Frankreich, Schweden, Portugal, Australien, der Schweiz und vielen anderen Orten, die ich im Laufe der Jahre leider vergessen habe. Es war herrlich. Drei meiner besten Freunde hier in München stammen immer noch aus dieser WG-Zeit. Es wurde in verschneiten Schwabinger Nächten Feuerzangenbowle getrunken, auf langen Ganzkörperspiegeln Sushi zubereitet und die weltbeste Pizza gebacken. Frische Schnecken aus Portugal waren eigentlich immer Bestandteil unseres wüst durcheinanderfliegenden Kühlschranks. Ich nannte damals doch tatsächlich ein halbes Kühlschrank-Fach mein eigen. Ulkigerweise war das ausreichend. Wer mich beim Einzug noch nicht kannte wusste bald, dass ich die Haferflocken-Esserin oder die Tomaten-Sandwich-Vertilgerin war. Alles in allem also eine sehr Platz sparende Kühlschrank-Konsumentin.

Verteidigungs-Strategie: Bügelbrett

In unserer „Kaiser-WG“ lebten die verschiedensten Charaktere in munterer Co-Existenz auf relativ engem Raum. Dabei war dieses Zusammenleben hervorragend, um die eigene Toleranz zu schulen. Nachdem das blonde Mädchen, das immer Hotpants trug, relativ zügig ausgezogen war, zog mir gegenüber ein freundlicher Kiffer ein. Sein Reich bestand aus sage und schreibe sieben Quadratmetern, welches sich allerdings, meiner Vermutung nach, durch die zahlreichen halluzinogenen Stoffe, die er rauchte auf phantastische Weise auszubreiten schien. Dabei war er, gerade den Schnecken gegenüber, die immer quicklebendig und taufrisch per Postfracht von Portugal in unser trautes Heim eingeflogen wurden, nicht besonders tolerant. Toleranz musste man auch üben, wenn Wiesn-Zeit war und sich noch mehr Menschen in unserer WG versammelten. Dabei wurde mein Zuhause immer wieder zu einem Panoptikum. Es war eine Wunderkammer seltsamer Begebenheiten und Begegnungen. Eines nachts stand beispielsweise der Schweizer mit einem Bügelbrett bewaffnet in meiner Zimmertür. Er meinte, er wolle sich verteidigen. Vor wem genau blieb mir bis heute ein Rätsel.

Auberge Espagnole im Herzen von Schwabing

Das tolle an der WG-Zeit war das Unterschiedliche an uns. Heterogenität par excellence sozuagen. Nicht nur die Länder oder Städte aus denen wir kamen. Auch unsere Biographien und Ausbildungen hätten verschiedener nicht sein können. Ein bisschen wie eine bunt gemischte Haribo-Tüte. Ob Lehrer, Arzthelferinnen, Fotografen, Berater, Physiker, Ingenieure oder Studenten – wir alle lebten in einer fröhlichen „Auberge Espagnole“ mitten am Schwabinger Kaiserplatz. Dabei blieb es nicht unbedingt bei einer Neuner-WG. Denn wir hatten alle unsere kürzeren oder längeren Liaisons und Partner, die wir anschleppten. Daher war es keine Seltenheit, wenn sich bei uns im „Wohnzimmer“ mal mehr als zwanzig Leute tummelten. Wenn es mir zu viel wurde, ging ich zum Mann oder zog mich in mein kleines bescheidenes Reich am Ende des Flurs zurück und mampfte meine Haferflocken.

In der Bayerischen Vierer-WG ist Exotik Fehlanzeige

Und heute, zehn Jahre später? Da ertappe ich mich tatsächlich dabei, wie ich meiner Freundin einen total verspießten Link sende. Einen Link auf dem sie Tipps mit wöchentlichen Rezeptideen findet. Tatarata: sogar zum Download als PDF! Sensationell. Man muss ja irgendwas kochen für die Kinder! Und da Schnecken nicht unbedingt zu den Lieblingsspeisen Vierjähriger zählen, brauche ich und mein Umfeld dringend Inspiration. Unglaublich, wie sich das Leben verändert. Von Neuner- auf Vierer-WG in zehn Jahren. Dabei sind zwei meiner Mitbewohner noch minderjährig und manchmal genauso verrückt wie der Schweizer mit dem Bügelbrett! Nur nicht ganz so international sind wir. Denn auf die Frage an den Stenz, ob er denn Vegetarier sei, antwortete er unlängst mit stolz geschwellter Brust: „Nein, ich bin Bayer!“ Aber für die Exotik in unserem Leben reisen wir dann halt einfach ein bisschen mehr.