Lange Büsen und andere Kuriositäten

„Mama, ich liebe Deine schönen langen Büsen“. Welch ein großartiger Auftakt für ein glückliches Wochenende. Ich wusste es, es ist alles eine Frage der Perspektive. Das Glas ist eben doch nicht halb leer, sondern fast voll. Meine Freundin wollte mich zwar davon überzeugen, dass die Feststellung „schöne lange Büsen“ zu haben, nicht unbedingt die Art Kompliment ist, bei der eine Frau in glückliche Ekstase ausbrechen sollte. Aber ich finde, sie irrt. Denn die Schönheit liegt doch im Auge des Betrachters. Braucht unsere Welt, gerade jetzt, nicht viel mehr originelle Komplimente? Ich sollte mir ein Bespiel an meiner Tochter nehmen.

Pinker Glitter gegen Herbstblues

Und das tat ich. Vor ein paar Wochen stand ich an der Drogerie-Kasse. Draußen regnete es in Strömen und das Gesicht der traurig dreinblickenden Kassiererin schien eine Reflexion der bayerischen Herbstwitterung zu sein. Tristesse pur. Der einzige Farbtupfer in dieser grauen Monotonie: die neonpinken Fingernägel, der Kassiererin. Diese wurden sogar noch mit viel Liebe zum Detail durch funkelnde Strassperlchen veredelt. Zugegeben, ich bin eher ein Verfechter schlichter Nagelkunst und würde meine Fingernägel niemals Jahrzehnte lang wachsen lassen, um sie dann in funkelnden Glitter zu tauchen. Aber irgendwie war das heute egal und ich hörte mich plötzlich zu der etwas korpulenteren Dame Ende Fünfzig sagen: „Haben Sie schöne Fingernägel, da bekommt man trotz des miesen Wetters richtig gute Laune.“ Gerade noch versunken in das eintönige Scannen der Waren, blickte sie mich unvermittelt an. Zunächst mit einem zaghaften, dann mit einem breiten Lächeln, das aus den Tiefen ihrerselbst an die Oberfläche gespült wurde. „Vielen Dank! Ich wünsche Ihnen  auch einen wunderschönen Nachmittag.“ Und den hatte ich tatsächlich, einzig und allein durch das berührende Lächeln dieser Frau.

Schluss mit zerquetschter Raupe!

Und dass obwohl ich mitten im Umzugsstress war und meine Laune seit Wochen um den Gefrierpunkt rangierte. Ein Bekannter schrieb mir kürzlich, dass ein durchschnittlicher Vier-Personen-Haushalt um die zehntausend Gegenstände verwalte. Welch ein Trugschluss! Es sind 10 Millionen Gegenstände. Warum ich das so genau weiß? Ich habe sie gezählt, mich über sie gewundert, sie weiterverschenkt, sie eingepackt und sie mitunter mit Schmackes in die Tonne getreten. Welch ein Vergnügen es doch ist, das eigene Leben sorgsam zu kuratieren und fein säuberlich in Kisten zu verpacken. Vor allem, wenn die Mitbewohner so gar nicht am Verpacken des eigenen Lebens interessiert sind. Ich sortierte aus, und unsere Kinder sortierten mit vehementem Widerspruch wieder ein. Zwischendurch verkündeten sie kraftvoll, unstillbare Hungergefühle, die ich mit dem Reichen von Bananen, Nüsschen und weiteren Leckereien vergeblich zu befriedigen suchte. Auch durch das teilweise langwierige  Hausaufgaben-Ritual  und die „Fertig-Schreie“ der Zweitgeborenen, die mir aus dem Badezimmer-Klo immer wieder entgegen hallten, kamen meine Packbemühungen jeden Nachmittag ins Stocken. Da half es auch nichts, dass ich die Musik immer lauter drehte und mich hinter den Kisten vor dem Wahnsinn, der überall hämisch lauernd auf mich wartete, versteckte. Am Abend fühlte ich mich trotzdem wie eine zerquetschte Raupe.

Vive la Bourgeoisie!

Aber damit ist jetzt Schluss. Wir sind endlich umgezogen und es fühlt sich phantastisch an. Ich lebe nun zum ersten Mal in einem richtigen „Erwachsenen-Haushalt“, mit Erwachsenen-Einbauschränken, einem Erwachsenen-Kamin und hohen Decken, die wie für Erwachsene gemacht sind. Und auch der Garten ist schlichtweg verehrungswürdig. So weckt mich nun allmorgendlich das Leuchten einer schimmernden Akazie, die freundlich in mein Bett hinein lugt. MIt ihrem  herbstlichen Goldregen lässt sie meinen Morgen mit ungewohntem Daseinsjubel beginnen. Ich habe das Gefühl, endlich dem Ikea-Stadium entwachsen und auf einer parkähnlichen Insel der Ruhe und Beschaulichkeit angekommen zu sein. Ein wahrlich bourgeoises Gefühl!

Oma, kauf mal Schwesta!

Und auch unser Nachwuchs fühlt sich heimisch und tanzt in der Dämmerung  um das gemütliche Kamin-Feuer herum. Nach Ansicht unserer Tochter steht einer Familienerweiterung im behaglich-trauten Heim nun nichts mehr im Wege: „Mama zu meinem Burztag wünsche ich mir nicht Spielzeug, sondern Schwesta!“ Welch frommer Wunsch, dem ich schlagfertigst entgegne: „Mein Engel, so schade, aber wir haben schon etwas anderes für Dich besorgt“ „Egal, Mama, dann soll Oma Schwesta kaufen.“ Ja, Platz hätten wir ja nun. Unser neues Häuschen trumpft sogar mit so etwas Keckem wie einem Hobbyraum auf. Dieser befindet sich im Souterrarin, wie die Franzosen so schön euphemistisch zu sagen pflegen. Genau, wie die acht Millionen der zehn Millionen Gegenstände unseres Haushaltes. Allerdings wird das neue „Spielzimmer“ von unserem Nachwuchs noch mit einem gewissen Argwohn betrachtet, Auf meine Aufforderung doch eher im Hobbyraum als neben meinem Schreibtisch zu toben erwiderte Lou: „Mama, ist nicht Hobbyraum, ist Keller, da spiel‘ ich nicht!“ Schlaues Kerlchen. Sie muss nach ihrer Mama und Oma kommen; der Frau mit den langen schönen Büsen und deren Mutter, die zum Burztag Schwesta kauft!

Über Siegen und Fähde

Eine Freundin erzählte mir neulich, dass ihr Sohn ihr zu Muttertag ein ganz besonderes Geschenk bereitet habe. Und zwar hatte er ihr im Auftrag seiner Lehrerin eine geheime Höhle gebaut. Welch‘ großartige Idee, welch‘ zauberhaftes Präsent! Gerade in Corona-Zeiten. Warum ist die Stenz’sche Lehrerin nicht auf diesen fulminanten Geistesblitz gekommen? Ich beneide meine Freundin insgeheim sehr um ihre Höhle. Ich will auch eine. So ein klandestines Örtchen, in das ich mich bei ohrenbetäubendem Geschrei schnell mal in Begleitung von ganz viel Wein, Chips und guter Musik verkriechen kann. Ein Bollwerk zum Schutz gegen das familiäre Chaos. Die Welt um mich herum kann in Unordnung, Dreck und Gebrüll versinken – egal, ich sitze milde lächelnd in meiner Höhle. Was muss das herrlich sein! Dabei würde ich in dieser Höhle gerne auf unbegrenzte Zeit lustig vor mich hin leben und erst wieder rauskommen, wenn jemand an der Höhlenpforte klopft und mir attestiert, dass meine Kinder zu rational denkenden Geschöpfen herangewachsen sind und ihre Gemüter nicht mehr tobenden Ozeanen gleichen, über die Hurrikans der Stufe Vier hinwegfegen.

„Mama, Du riechst mir bäh“

Heute morgen z.B. hatte ich das Gefühl, dass mindestens die große Schwester von Hurrikan Katrina von unserer Zweitgeborenen Besitz ergriffen hat. Und dass nur, weil ihr beim Öffnen des Kühlschranks ein leichter Hauch von Knoblauch entgegenwehte. Der letzte Rest an emotionaler Stabilität wich dann aus ihrem kleinen Körper, nachdem ich ihr mitteilte, dass die Himbeeren leider leer gefuttert seien. Überhaupt entpuppt sich unsere Tochter zur Zeit als äußerst sensibel, was Gerüche anbelangt. So schrie sie gestern Vormittag bei der Verabschiedung quer über den Kindergarten-Garten: „Mama bäh“. Ich versuchte ihr dennoch ein Abschieds-Bussi auf die Wange zu drücken, was sie mit einer weiteren Präzisierung und öffentlichen Charme-Offensive mit: „Mama, Du riechst mir bäh“ quittierte, sodass auch die letzte Mutter ganz hinten im Garten annehmen musste, dass ich in Sachen Körperhygiene zur Vernachlässigung neige. Mitnichten, möchte ich an dieser Stelle betonen. Trotz Corona, ich dusche täglich und putze mir oft sogar vier Mal am Tag die Zähne. Ich bin wirklich reinlich, habe allerdings am Morgen das dringende Bedürfnis, mindestens einen starken Kaffee zu trinken. Ein Fakt, der von unserer familieninternen Geruchspolizei leider für nicht gutgeheißen wird. Zum Glück riecht die Kindergärtnerin laut unserer Tochter besonders „lecker“, denn sie duftet gemäß Lou so toll nach „Desinfektmittel“. Vielleicht sollte ich mein nächstes Bad auch in diesem Zauberfluid nehmen.

Lou, die knallige Granate

Doch nicht nur Gerüche haben die Macht, unsere Tochter in einen mittelschweren bis schweren Nervenzusammenbruch zu stürzen. Auch verbale Missverständnisse können fatale Folgen für meinen Seelenfrieden und mein Gehör haben. So erklärte mir Lou auf einem Spaziergang zunächst in freundlichem Ton, dass sie gerne noch bei den „Siegen“ vorbeischauen wolle. „Welche Siegen?“ fragte ich relativ geistesabwesend zurück. „Die Siegen!“ entgegnete sie schon in etwas harscherer Gangart. Da ich ahnte, dass dieser Dialog für mich übel enden könnte, gab ich vor, ihren Befehl selbstverständlich verstanden zu haben und erwiderte ganz nonchalant: „Ja, klar die Siegen!“ Allerdings tappte ich immer noch im Dunkeln. Leider merkte das unser Kind. Denn mittlerweile schrie sie mir mit äußerster Empörung entgegen: „Nicht die Siegen, die Siegen!!!!“ Zum Glück kam die Erlösung, in Gestalt dreier munterer und milde lächelnder Ziegen just in dem Moment um die Ecke, als unsere Zweitgeborene  dabei war, sich aus dem Kinderwagen auf den Boden zu stürzen und vor Zorn wie eine knallige Granate zu explodieren. „Ja klar, da sind sie schon die fröhlichen Siegen.“ Doch nicht nur die Siegen, auch die Fähde (Pferde) haben es ihr angetan. Seit sie einmal bei einem Kindergeburtstag auf dem Sattel eines Fähdes stehen und dazu noch galoppieren durfte, erklärt sie mir allabendlich, dass morgen wieder einmal ihr Geburtstag sei und sie bitte auch zu einer Fähde-Party einladen wolle. Auch könne sie heute Abend, so kurz vor ihrem täglich wiederkehrenden Ehrentag nur mit der heiß geliebten „Fähde-Flasche“ einschlafen. Dabei findet sie im Gegensatz zu mir, die ich die weibliche Hysterie um die mähnigen Huftiere nie nachvollziehen konnte, alles an Fähden faszinierend, sogar das Apfelkacka (Pferdeäpfel), wie sie mir unlängst erklärte.

Wenn der Pinguin zum Mingo (Flamingo) wird

Nachdem ich ihr, ihren neuen Fetisch, die Fähde-Flasche schnell und wehenden Haares aus der Küche apportierte, gelang es Lou das Einschlaf-Ritual wieder in die Länge zu ziehen. So fing sie damit an,  dass sie jetzt nicht mehr mit mir kuscheln könne, denn ich rieche ihr irgendwie wieder einmal bäh. Als mein Sohn mich dann ermuntern wollte, ein bisschen Parfum aufzutragen, damit ich das olfaktorische Wohlgefallen unserer Tochter erlange, reichte es mir. Ich rief nach dem Mann, der das Lullaby-Ritual zur Zeit mit mehr Geduld als ich realisiert. Dabei stolperte ich beim Verlassen des Kinderzimmers aus Versehen über diverse Rucksäcke, Taschen und Täschchen, die Lou schon vor Wochen akribisch gepackt hatte. Denn sie will ja gerüstet sein für den bevorstehenden Urlaub im „Fähde-Tel“ (Pferde-Hotel), dem sie nach der langen coronabedingten Urlaubs-Abstinenz mit großer Vorfreude entgegensieht. Doch nicht nur Fähde, auch Pinguine versetzen Lou momentan in einen Zustand größter Euphorie, denn „die sind so schön rosa“. Ach so, vielleicht verziehe ich mich vor unseren „Fähde-Ferien“ einfach noch ein Weilchen in meine Höhle und komme erst wieder raus, wenn ein rosa Pinguin vorbeifliegt.

Eichhörnchen, seid auf der Hut!

„Stenz, Eichhörnchen schreibt man mit zwei h in der Mitte!“ Irgendwie scheinen meine Worte allerdings an diesem Morgen ungehört im Universum zu verpuffen. Denn auch beim fünften Versuch, lässt unser Sohn eine eigene Spezies, nämlich die der „Eich-Örnchen“ in seinem Deutschheft Haselnüsse knacken. Oder er möchte partout vornehm erscheinen und wählt eine Schreibweise, die der Aussprache unserer hugenottischen Vorfahren gerecht würde. Während ich mir denke, dass Papier ja geduldig ist, wirft die Tochter ein randvolles Glas Milch quer über den Tisch. Aber erst nachdem sie vorher ein randvolles Glas Wasser in ihrem Bett entleert hat. Ich versuche auch die zweite Sauerei schnellst möglich zu beseitigen und lausche dabei den schulischen Ausführungen des Stenzes , der von der weiblichen Eichkatze und dem männlichen Eichkater, die gemeinsam ein Kobel bauen, referiert. Höchst interessant! Die Waschmaschine piepst. Ich unterbreche den „Eich-Örnchen“-Diskurs und sprinte zur Waschtrommel und sinniere darüber, was ich heute Mittag mal wieder kochen könnte.

Nix mit „Essen hält Leib und Seele zusammen“

Dabei streife ich momentan tatsächlich mein angeborenes Koch-Phlegma ab. Ich kann es kaum glauben. Die Ratlosigkeit, die mittlerweile hinter unserem heimischen Herd herrscht, wächst täglich mindestens auf die Höhe des Eiffelturms. Und so ertappe ich mich doch wirklich dabei, an einer Rezept-Austausch-Ketten-Email teilzunehmen. Ich bitte an dieser Stelle alle meine Freundinnen um Verzeihung. Sogar die Einladung einem Koch-Chat beizutreten, habe ich aus purer Verzweiflung angenommen. Etwas so Abstruses wäre mir zu Vor-Corona-Zeiten wirklich nicht in den Sinn gekommen. Während ich noch darüber reflektiere, was ich heute so auf den Mittagstisch zaubere, höre ich das weibliche Chaos-Geschwader die Treppe hoch stapfen. Ich folge ihr unauffällig. Puh, sie fängt nur an zu tanzen. Und ich atme zwei Minuten durch und widme mich wieder der mittäglichen Essensplanung, die momentan für unsere Familie einen hohen Stellenwert einnimmt. Wie heißt es so schön: „Essen hält Leib und Seele zusammen.“ Um den passenden Seelen-Kit zu finden, trage ich wirklich eine schwere Last auf meinen Schultern. Unglücklicherweise werde ich dieser, aufgrund von fehlendem Talent und, ich gebe es zu, mangelnder Euphorie, nicht gerecht.

Karotten: Das Anti-Corona-Hausmittel

Trotz meiner Unfähigkeit in Gourmet-Fragen, hat unsere Tochter sehr genaue Vorstellungen von einem perfekten Mahl. So artikuliert sie schon am frühen Morgen ihre kulinarischen Gelüste präzise: „Mama fühle Halsweh, brauche Bonbon. Fühle wirklich schlecht! Bonbon, jeeeeeetzt!“ Aber wie kommt es, dass sich Lou so schlecht fühlt? Weihte sie uns doch erst kürzlich in die Geheimnisse prosperierender Gesundheit ein. So kam sie noch zu Kindergartenzeiten mit folgendem Anti-Corona-Hausmittel nach Hause: „Rotte beißen, Krankheit weg.“ Ach ja, stimmt, unsere Tochter hält ja leider jegliches Wurzelgemüse seit jeher für höchst verabscheuungswürdig. Kein Wunder also, dass sie heute morgen von einer Malaise geplagt wird. Und auch Schlat ist bäh, wohingegen Schlade für köstlich befunden wird. So sollte man, wenn man ihr Freund werden möchte, unbedingt auf sprachliche Feinheiten achten und sie keinesfalls mit Schlat (Salat) belästigen, sondern vielmehr mit Schlade (Schokolade) beglücken. Dabei hat Lou ein seltenes Talent. Sie besitzt die Fähigkeit, auf genau die Schwachstellen hinzuweisen, die mein Gekochtes mitunter aufweist und zwar mit absoluter Treffsicherheit. So buk ich voller Elan vor Ostern Hefezopfhasen, die allerdings lediglich zur Zierde reichten. Denn zum Verzehr waren diese kleinen saisonalen Kunstwerke laut unserer Tochter vollkommen ungeeignet. So entgegnete sie auf die Frage ihres Vaters, ob sie denn noch ein kleines Häschen zum Nachtisch verspeisen wolle mit folgenden Worten: „Nein, nicht essen, sonst Zahn fällt aus.“

„Ahhh“ ist nicht gleich „Ahhh“

Aber es ist nicht nur diese allgemeine Koch-Resignation, sondern es ist die fehlende Motivation in sämtlichen Bereichen des häuslichen Lebens, die mich, aber auch viele meiner weiblichen Bekannten gerade in den Wahnsinn treiben.  Es ist quasi ein holistisches Problem. So erzählte mir eine Freundin unlängst, dass Sie sich nur für ein paar Minuten ins Bad eingeschlossen habe, einfach mal, um in Ruhe durchzuschnaufen und ein bisschen zu weinen. Ich nickte am Telefon wie ein Wackel-Dackel, weil ich sie so gut verstand. Allerdings wurde die kurze „Me-Time“ meiner Freundin unschönerweise durch Geschrei gestört. Nämlich das hochfrequente Gejaule ihrer Tochter. Was in Zeiten wie diesen nicht ungewöhnlich ist. Denn die Tochter schreie zur Zeit eigentlich ständig, erklärte sie mir. Daher ignorierte meine Freundin das Gebrüll ganz nonchalant. Es schien ihr nicht das „Alarm-Stufe-Rot-Geschrei“, sondern eher so das „Hach, da ist mir ein Stift runtergefallen und ich bin zu faul, mich zu bücken“ Geschrei. Also reagierte sie nicht. Wieder Wackel-Dackel Genicke meinerseits. Denn meine Herangehensweise an Schrei-Attacken ist momentan ähnlich. Als ihr Mann dann aber leicht panisch gegen die Badezimmer-Tür hämmerte mit der Bitte, die Tochter schnellst möglich zu verarzten, weil ihr der große Bruder mit Pfeil und Bogen ein kleines Loch in die Stirn geschossen habe, bat sie ihr Gehör in Zukunft, um eine differenziertere Wahrnehmung.  „Ahhhhh“ ist eben nicht gleich „Ahhhhhh“.

Eichkatze, lauf! Eichkatze, lauf!

Und auch mir offenbarte sich diese weitreichende Erkenntnis heute Mittag. Ich Glückliche! Nachdem ich meinen Liebsten das hundertste Nudelgericht während der Zwangs-Isolation kredenzt hatte und gerade mit dem Mann den Abwasch starten wollte, ertönte ein markerschütterndes Lamento. Ein „Ahhh“ der lebensbedrohlichen Art sozusagen. Ich ließ alles stehen und liegen und blickte im Wohnzimmer auf ein Blutbad. Und der Stenz, der eigentlich so gar kein Blut sehen kann, mitten drin. Mit den Worten: „Ich verblute!“ und „Lou hat mir ihren Finger in die Nase gerammt“ erfuhr ich schnell die Ursache des heimischen Massakers. Vielleicht wäre so eine Atemschutzmaske über Mund und Nase auch im innerhäuslichen Umgang miteinander gar nicht so verkehrt.  Auch der Mann kam eilig herbeigerannt und raunte mir zu: „Das Hauptblut habe ich auf dem Wohnzimmerboden schon mal weggewischt, den Rest schaffst Du, oder?“ Ja, den Rest schaffte ich und während ich eilig eine Rolle Zewa Wisch und Weg in den Nasenhöhlen unseres Erstgeborenen verschwinden ließ, dachte ich so bei mir: „Ich muss die Eichkatze warnen. So ein Kobel-Bau mit dem Eichkater hat weitreichende Folgen – gerade in Quarantäne-Zeiten!

Überlebens-Strategien für gestresste Mütter in Corona-Zeiten

Überlebensstrategien in Corona-Zeiten

Ich bin heute zum ersten Mal in meinem Leben in einer Tiefgarage stecken geblieben. Irgendwie in den Untiefen der automobilen Dunkelheit versackt. Ich kam einfach nicht mehr raus. Ist mir noch nie passiert. Muss an Corona liegen. Meine Nerven liegen blank. Habe ich doch tatsächlich das Tiefgaragen-Ticket verschlampt. Als ich mir dessen gewahr wurde, riss ich mir die Maske vom Gesicht, die ich heute schon mal probehalber ausführte und fragte den Stenz maximal ratlos: „Ja, was machen wir denn jetzt?“ Er entgegnete relativ indifferent: „Mama, woher soll ich das denn wissen!“ Eine andere Antwort hätte mich bei näherer Überlegung auch überraschen  sollen. Allerdings ersann die Tochter einen kreativen Plan: „Mama Bus fahren!“

Stuck in the Dark

Da aber leider gerade kein Bus zur Hand war, machte ich mich eiligen Schrittes auf zum Not-Knopf an der Tiefgaragen-Einfahrt und klingelte Sturm. Wieder ein absolutes Novum für mich. Habe ich noch nie zuvor gemacht. Nicht das Sturm klingeln, sondern dass an der Schranke mit dem Jenseits sprechen. Dabei befahl mir das Jenseits: „Bewahren Sie Ruhe!“ Während ich diese allerdings zunehmend verlor, meldete sich nach einer gefühlten Ewigkeit, diesmal live aus dem Off die Erlösung mit den Worten: „Gibt es ein Problem? Ok, dann komme ich mal schnell runter.“ Hach, was `ne Erleichterung, ich muss die Corona-Isolation nicht auch noch in der Düsterkeit bei Abgas-Mief fortsetzen. Während ich mir das so dachte, griff ich in meine Hosentasche und Abrakadabra, da war es, das verlorene und erlösende Ticket in die Freiheit. Yeah!

Fröhliche Garagen-Auszeit

Als ich die Geschichte später einer Bekannten erzählte, meinte sie ganz trocken, dass sich ihre Freundin seit Corona regelmäßig heimlich für ’ne halbe Stunde in ihre Garage zurückziehe. Quasi als Auszeit, um Mann und Kindern zu entfliehen. Vielleicht wäre das meine Chance gewesen. Andererseits, hatte ich die Kids ja auf der Rückbank. Aber vielleicht sollte ich diese Überlebens-Strategie in Corona-Zeiten zu meinen anderen dominanten Survival-Maßnahmen hinzufügen. Die da wären: Viel Rotwein, Peppa Wutz und das ganztägige Tragen von Ohropax. Dabei wirkt die dominante Strategie Ohropax in Verbindung mit Rotwein ganz besonders dämpfend. Fast wie eine interne und externe Schall-Isolierung. Eine Wohltat in bizarren Zeiten wie diesen. Außerdem überhört man mit den Stöpseln im Ohr die stinklangweiligen Dialoge zwischen George und Lucie Löffel, die aufgrund der Peppa Wutz Obsession unserer Tochter mittlerweile in Dauerschleife durch unser Wohnzimmer wabern. Wohltuend wirkt auch wildes, ungehemmtes Tanzen auf Party-Musik, um etwaige Spannungen, die sich in der Isolation mit Kindern und Mann leicht aufbauen, abzuschütteln.

Familien-Zusammenführung in der Kanalisation

Vor dem Tiefgaragen-Fiasko schüttelte ich morgens beim Tanzen allerdings nicht nur aufgestaute Aggressionen ab, sondern auch eine triefend nasse Ratte. Denn während ich mit dem Stenz versuchte, in tiefster Konzentration gepflegtem Homeschooling nachzugehen, übte sich Lou in Sachen Kreativität. Letztere wurde unserem Kind erst unlängst von unserer Nachbarin mit absolutem Kennerblick attestiert: „Die Kleine hat Phantasie“. Ja, das hat sie. Dabei mündet ihr Einfallsreichtum bisweilen darin, dass ich mich plötzlich genötigt fühle, den Klempner zu rufen. So hörte ich sie heute morgen auf dem stillen Örtchen laut und furios schimpfen. Und dass, während der Stenz und ich vollkommen versunken, einen lustigen „Homeschooling Pompom“ bastelten. „Böse Maus, mag dich gar nicht, du böse Maus!“ Als ich sie dann vom Klo hob, erblickte ich die weiße Kuscheltier-Ratte ihres Bruders in den Untiefen unserer Toilette. Warum sich der Nager den Zorn unserer Zweitgeborenen zugezogen hat, ist mir immer noch schleierhaft. „Will, dass Maus mit Pipi runtersaust!“ gab sie mir verschwörerisch zu verstehen. Hatte die Ratte sie beleidigt oder gar noch schlimmer, ihren Schladen (Schokoladen)-Proviant weggefuttert? Vielleicht ist unser Kind auch einfach nur ein empathisches Wesen und pocht in schweren Zeiten auf eine harmonische Zusammenführung der Ratten-Familie in den Tiefen der Kanalisation? Ich werde es wohl nie erfahren. Egal, ich rettete die Ratte und  gönnte ihr eine 90°C heiße Dusche in der Waschtrommel.

Fingernägel auf  Fußnägeln

Doch Lou ist nicht nur kreativ, sondern schon im zarten Alter von drei Jahren überaus schönheitsbewusst. So ertappte ich sie unlängst beim Versuch, meinen roten Nagellack auf ihre Lippen zu schmieren. Denn gerade in der Isolation scheint es ihr wichtig, sich nicht gehen zu lassen und mit purpurnem Mündchen zu glänzen. Aktionen wie diese lassen mich manchmal überlegen, ob ich vielleicht schon um 13 Uhr damit beginnen sollte, mir meinen Rotwein großzügig einzuschenken? Dann würde mich auch die Tatsache nicht aus der Bahn werfen, dass sich unsere Tochter gerade mit bloßen Händen Kakao in ihre Milch schöpft und ich könnte das ununterbrochene Gejammer, dass sie jetzt und sofort unbedingt Fingernägel auf ihre Fußnägel haben möchte, besser ignorieren. Denn nichts macht unsere Tochter glücklicher als Nagellack alias Fingernägel auf ihren Fußnägeln. Am besten in rot, wobei rosa geht auch. Dabei ist sie schon selig, wenn sie nur Menschen mit Nagellack erblickt. Meine beste Freundin zum Beispiel hat das Herz unserer Tochter im Sturm erobert, als sie sie in ihre Arme nahm, die in Händen mit perfekt manikürten Fingernägeln mündeten. Obwohl meine beste Freundin weit weg wohnt, spricht sie täglich von ihr. Genau wie von meiner „Schwägerin“, die ebenfalls ganz bezaubernde Hände ihr Eigen nennt. Auf die Frage, wen unsere Tochter denn mehr liebe, die Mama oder die Freundin meines Bruders kam vor ein paar Tagen wie aus der Pistole geschossen „Melanie, weil sie ist so schön“. Danke für die Blumen, es geht doch nichts über charmante Komplimente an die eigene Mutter. Aber gut, ein Kind braucht Rollen-Modelle. Vielleicht wird es später ja doch noch Mutter Theresa. Und bis dahin, schenke ich mir mal ein Glas Rotwein ein!

Das Leben ist ein Wunschkonzert

Heute morgen um 6:30 h weckte uns unsere Tochter mit den Worten, dass sie eine Putzfrau sei und nun gedenke, unser Schlafzimmer zu reinigen. Zur Demonstration schleppte sie unendlich viele Feuchttücher an, die sie dann sorgsam auf dem Schlafzimmerparkett verteilte. Wahrscheinlich in der hoffnungsfrohen Annahme, dass die Feuchttücher den Rest der Bodensäuberung dann schon alleine übernähmen. Leider war dem nicht so. Und dass obwohl eine eingehende Bodenwischung in der Tat von Nöten gewesen wäre. Sehr sensibel unser Kind. Anschließend versuchte Sie alle Vorhänge und Jalousien selbständig zurückzuziehen, um uns das schöne Wetter, das draußen um 6:30 Uhr bereits herrschte, zu zeigen. Was absolut eigenartig ist, denn unser Nachwuchs erfreut sich, gerade morgens zu Schulzeiten, an einem beinahe komatösen Schlaf, der selbst gegen die lautesten Weckrufe immun ist. Erst seit der schulfreien Zeit singen unsere Kinder im Morgengrauen mit den Amseln um die Wette. Wunderbar!

Feder-Krönchen und Feen-Zauberstab – Die Zukunfts-Requisiten

Egal, ich habe ja einiges zu tun. Zum Beispiel rosa Federn an das Krönchen kleben oder Sterne an den Feen-Zauberstab nähen. Das ist wichtig in dieser Zeit. Denn nach Corona werden wir das Krönchen wieder ausführen und den Zauberstab zur Erfüllung unserer Wünsche wieder in der Luft hin und herschwingen. Ich bin mir sicher, die Zeit danach wird genauso wundervoll wie zuvor. Und bis dahin backen wir Hefezopfhasen, bemalen Eier, dichten oder verteilen Millionen Schnipsel in unserem Haus. Denn die Lieblingsbeschäftigung unserer Zweitgeborenen ist neben den morgendlichen Weckrufen momentan Papier zu zerreißen. Sie zerreißt, zerreißt und zerreißt. Den lieben langen Tag. Und ich sammle auf, sammle auf und sammle auf. Ebenfalls den lieben langen Tag. Fitness-Studio brauch‘ ich nicht. Das Aufsammeln von Millionen Papierschnipseln ist mein tägliches Workout. Ich habe ein Kind geboren, dass es Hänsel und Gretel mit ihrer Brotkrumen-Streuung nachmachen möchte. Wie einzigartig sie doch ist. Auch haben es ihr Aufkleber aller Art angetan. Unzählige Aufkleber zieren mittlerweile Schränke, Wände, Waschbecken und sogar ihre Stirn und Nase. Sie ist ein wandelnder Performance-Artist, der an sich selbst das beste Exempel statuiert.

Unser Briefträger: der personalisierte Bote des Glücks

Und sollte sich der Vorrat an bunten Osterhasen-Aufklebern allmählich dem Ende neigen, wird der Mann bekniet, Nachschub zu besorgen. Denn eines hat unsere Tochter sehr schnell begriffen. Der „Puter“ (Computer) eröffnet neue materielle Welten und der Briefträger ist der Heilsbringer in dieser Zeit. „Ich liebe Briefträger!“ Für sie scheint er der personalisierte Bote des Glücks zu sein. „Liebe Briefträger so sehr!“ und „Du bestellen, Puter!“ sind ihre favorisierten Phrasen. Denn neben dem Zerreißen von Papier besteht ein weiterer Zeitvertreib unseres Kindes dieser Tage darin, sich etwas zu wünschen. Für sie scheint das Leben ein nicht enden wollendes Wunschkonzert zu sein. „Mama, weißt Du, was ich mir vom Zahnarzt wünsche?“ nuschelt sie mir mit einem, mit Zahnpasta gefüllten Mund entgegen. „Nein“, entgegne ich. „Aber wer so schön die Zähne putzt, bekommt vielleicht wirklich vom Zahnarzt eine Kleinigkeit.“ ermuntere ich sie, mir weiterhin schön den geöffneten Mund entgegenzustrecken. Ein paar motivierende Worte sind bei unserer Tochter im Zusammenhang mit bevorstehenden Zahnarztbesuchen auf jeden Fall angebracht. Denn die letzten beiden Visiten zur Mundhygiene verliefen eher suboptimal. So verließ unser guter Zahnarzt-Freund, der für mich die Inkarnation an Gelassenheit verkörpert, fluchtartig den Untersuchungsraum, nachdem Lou in ein solch markerschütterndes Geschrei ausbrach, dass selbst die Praxis-Fenster zu klirren begannen. Sogar die engagierte Zahnarzthelferin Frau Schmidt, schmiss völlig aufgelöst den Hahn, den sie origamigleich aus den Einweghandschuhen zur Ablenkung unseres Kindes herstellte, in die Ecke und kapitulierte mit den Worten: „Au weh, ihr Kind kann aber laut schreien.“ Meine Rede!

Vom Frosch geküsst, vom Einhorn gesegnet

Allerdings habe ich das Gefühl, dass unsere Tochter für den nächsten Zahnarztbesuch insgeheim Besserung gelobt. Denn sie will unbedingt nach der Zahnbegutachtung beschenkt werden. „Wünsche mir Schlade!“ äußert sie ihre geheimen Sehnsüchte, die ihr diesmal nicht der Briefträger, sondern der Zahnarzt erfüllen soll. „Oh ich glaube, der Zahnarzt ist der falsche Ansprechpartner, um dir Schokolade als Belohnung zu schenken“, entgegne ich. „Dann wünsche mir Bummibärchen.“ „Aber Lou, Gummibärchen sind genauso ungesund und machen die Zähne kaputt. Vielleicht bekommst Du eine Zahnbürste.“ „NEIN! NEIN! NEIN! Zahnbürste will ich nicht, Schlade oder Handy, richtiges Handy!“ Erwähnte ich bereits, dass meine Tochter wahrlich eine Meisterin im Wünschen ist. Dabei äußert sie ihre Sehnsüchte mit einer solchen Vehemenz, dass ich das Gefühl habe, ein riesiger Wunsch-Steinbrocken fällt mir auf den Kopf und hypnotisiert mich. Dem Mann muss es ähnlich ergehen. Denn nach meiner letzten Dienstreise kam ich nach Hause und unsere Tochter verfügte plötzlich über ein sehr fragwürdiges Schmink- und Schmuck-Sortiment. Mein Mann muss wohl vom Wunsch-Steinbrocken unseres Kindes getroffen worden sein und in geistiger Umnachtung Online-Bestellungen recht zweifelhafter Natur aufgegeben haben. Ich traute meinen Augen kaum, als ich ihre glitzernd-grünen Lippen erspähte, ganz so als hätte sie gerade einen Frosch zu Tode geküsst. Und um dieses Bild noch zu krönen, lachten mich von ihren beiden Ohren zwei kleine Einhörner verschmitzt an. So ist es also, wenn man sich mit Inbrunst etwas wünscht. Dann geht es in Erfüllung. Das werde ich jetzt auch probieren, nachdem ich mir das rosa Krönchen aufgesetzt und den Feen-Zauberstab ganz sachte mit geschlossenen Augen gen Himmel geschwenkt habe.  Was ich mir wünsche? Das bleibt mein Geheimnis. Nur so viel: es hat mit einem papierschnipselfreien Leben vor Corona zu tun.

Weihnachten und andere Katastrophen

Als ich am Tag vor Weihnachten erwachte, fühlte ich mich bereits so zerbröselt wie meine ziemlich missratenen Butter-Plätzchen. Da hätte ich den morgendlichen Weckruf des Mannes „Der Stenz hat Kopfläuse!“ eigentlich nicht mehr gebraucht. Dabei weiß ich nun, dass es den richtigen Zeitpunkt für eine Läuse-Invasion nicht gibt. Es gibt allerdings ein besonders schlechtes Timing für so ein parasitäres Stelldichein, gerade wenn es sich um eine Premiere handelt. Und das ist der Tag vor Heiligabend. Wenn man nach beinahe kriegerischen Einkauf-Marathons, stundenlangen Pack-Zeremonien und nicht enden wollenden Bastel- und Backnachmittagen (gähn) schon so erschöpft in sich zusammensackt, dass man befürchtet, das Christkind aufgrund eines drohenden Burn-Outs zu verpassen. Ja, dann kommt so ein Lausbefall am Vorweihnachtstag einem finalen Dolchstoß gleich. Das weiß ich jetzt!

Der moderne Mann von heute schaukelt die Laus alleine

Aber der Reihe nach, zunächst sah es am Morgen des 23. Dezembers noch gar nicht so düster aus. Denn der Mann schien das Kind bzw. die Laus gut alleine zu schaukeln. Ich erwachte in einem katerähnlichen Zustand, der leider nicht durch Hochprozentiges verursacht wurde, sondern durch ungünstige Verrenkungen während der Christbaum Dekoration und einer finalen Pack-Orgie. Wie aus der Ferne vernahm ich die Stimme des Mannes, der mit stolz geschwellter Brust in einen Lobgesang seiner Heldentaten ausbrach. Wie er die Laus quasi im Nahkampf besiegt hatte, aber nicht ohne sie vorher auch als Laus unter dem Stenz’schen Amateur-Mikroskop identifiziert zu haben. Welch‘ eine couragierte Leistung! Als sich meine müden Knochen dann endlich in Richtung erstem Kaffee bewegten, rannte mir der Stenz schon mit tropfnassen, lausbehandelten Haaren freudig entgegen. „Nein, das Antiläusemittel ist ziemlich giftig, die Behandlung machen wir lieber nicht auch noch prophylaktisch bei Lou.“ fachsimpelte mir mein Mann expertengleich entgegen als ich ihn, immer noch in einem Trance ähnlichen Zustand, nach dem weiteren Procedere befragte. Also beschränkten wir uns einen Tag vor Weihnachten zunächst einmal auf das Säubern unzähliger Bettdecken, Laken, Handtücher und Kopfkissen. Mir war bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst, welch facettenreiches Kissen-Sammelsurium unser Haushalt sein Eigen nennt. Anstatt der Weihnachtsgans stopften wir diverse Haarbürsten ins Tiefkühlfach und gönnten den Kuscheltieren eine kleine vakuumverpackte Wellness-Auszeit im gelben Sack. Zwischendurch fuhren wir zur Notapotheke und besorgten uns, nur so zur Sicherheit, Nachschub des giftigen Anti-Laus-Gedöns.

Party-Nacht adé – Laus-Eier, ich komme!

Kurz vor acht am Abend, äußerte unsere Zweitgeborene dann mit einem weinerlichen Unterton in der Stimme „Papa, Kopf kratzen, Käfer!“ Ich war gerade dabei, mit letzter Kraft noch kurz zu einem nachbarschaftlichen Geburtstags-Festchen aufzubrechen als sich eine leicht hysterische Stimmung unter unserem Dach breit machte. „Ja, was machen wir denn jetzt? Sie hat auch Nissen!“ Der Laus-Experte, der am Vormittag noch von einer prophylaktischen Antilaus-Behandlung unserer Zweitgeborenen abgeraten hatte, griff nun panisch zur giftigen Tube, um auch der Tochter ihr wohlverdientes Nissen-Treatment zu verpassen. „Geh‘ ruhig, aber lass‘ mich später nicht alleine, komm bitte wenigstens zum Auskämmen der Läuse-Eier wieder.“ Ja, wenn das mal keine motivierenden Worte für eine ausschweifende Party-Nacht sind?

Die perfekte Läuse-Artillerie

Auf der Geburtstagsfeier traf ich dann auf ein ganzes Heer an kampfbereiten Antilaus-Amazonen, die mir mit ihrem profunden Spezial-Wissen zur Seite standen. Und oh Schreck, was erfuhr ich? Der Mann hatte das falsche Tonikum besorgt. „Nyda-Express“, das handliche, vollkommen ungiftige, nach Zitronengras duftende Pumpspray musste her! „Nyda“, was ein eigenartiger Name? Ganz so, als nuschle ein betrunkener Sachse seiner Kopflaus im Vollrausch entgegen: „Nü, da, hau endlich ab!“ Egal, sei’s drum.

Preisfrage: Wird das Christkind, den unter Kochwäsche begrabenen Tannenbaum finden?

Nach ganzen 25 Minuten Partygeschehen bahnte ich mir dann den Weg zurück zu den heimischen Laus-Eiern, vorbei an 70 Wäschespinnen und Hunderten von  Handtüchern und Bettlaken, die träge von unserem Treppengeländer baumelten. Dabei fragte ich mich insgeheim, wie das Christkind wohl um Himmels Willen, den unter tropfender Kochwäsche begrabenen Tannenbaum erfolgreich zu finden gedachte? Nach dieser, einem Hindernis-Lauf gleichenden Odyssee, erreichte ich dann doch endlich das Badezimmer. Hier blinzelte mir unsere schlaftrunkene Tochter mit ihren Brombeer-Äugelein entgegen. Dabei wachte sie beim Auskämmen der Nissen leider wieder ganz plötzlich auf, um ein markerschütterndes Geschrei anzustimmen. Und weil das so lustig klang, machte ich mich anschließend daran, auch dem Stenz seine bereits zweite Laus-Behandlung an diesem Tag, angedeihen zu lassen – hatte er ja einträchtig, Kopf an Kopf, mit seiner Schwester gespielt. Und um so richtig in weihnachtliche Feierlaune zu geraten, läuteten der Mann und ich, quasi als Höhepunkt um Mitternacht, den Heiligen Abend mit einer gegenseitigen Anti-Laus-Kopfmassage ein. Was ein Genuss!

Stille Nacht, heilige NAcht…

Und auch der Weihnachtsmorgen gestaltete sich nicht minder herausfordernd, nämlich mit der Jagd nach der kostbaren sächsischen Wunderwaffe „Nyda Express“. Irgendwie schleppte ich mich dann noch mit letzter Kraft zum Kinderkrippen-Spiel, wunderte mich, wieder zu Hause angekommen, über den starken Flügelschlag des Christkindes, hatte es doch wider Erwarten, all seine Geschenke erfolgreich unter dem Weihnachtsbaum abgeladen. Und während leise „Stille Nacht, heilige Nacht“ erklang,  kippte ich selig lächelnd um und träumte von lausfreien Weihnachten.

The only possibility to survive the darkness is glitzer!

Der Stenz lacht mich verschmitzt an und liest mir mit großem Vergnügen die beiden Silben „Luuuuu Saaaaa“ immer und immer wieder vor. Leider scheinen die anderen zu übenden Silben nicht die gleiche Faszination auf ihn auszuüben. Schleppend geht es voran: „mooooo, maaaaa, wiiiiiiii, laaaaaaa, leeeeee…. . Nur bei „Luuuu Saaaaa“ blitzen seine Augen kurz auf, während ich gegen den mich übermannenden Schlaf ankämpfe. “Mama, da steht Lusa”. Ja, stimmt, aber den loser den du meinst, schreibt man anders. Das scheint dem Stenz egal zu sein. Lusa ist Lusa! Irgendwie hatte ich mir das mit dem Lesen üben ganz anders vorgestellt, mehr rosarot und vielleicht auch ein bisschen hellblau. Leider ist lesen üben eher schwarz. Ein schwarzes Loch in das ich hineingezogen werde, das mich hypnotisiert, um mich anschließend ganz und gar zu verschlingen. Die monotonen Schwingungen der vorgelesenen Silben paralysieren mich.

Es lebe die Phantasie!

In meinem naiven Denken ging ich davon aus, dass mir der Stenz als Einsteiger-Lektüre nach acht Wochen Schulunterricht, vielleicht erst einmal etwas zögerlich, dann aber doch relativ hurtig, von Michels Abenteuern aus Lönneberga vorlesen würde. Aber nur, um mir wenig später mit viel Verve in der Stimme die gesammelten Werke meiner Lieblingslektüre aus Kindertagen, nämlich “Ich und meine Schwester Clara” zu rezitieren. In meiner Phantasie war er es, der der gesamten Familie ab Schulbeginn die Gutenacht-Geschichte vorliest. Die Realität gestaltet sich leider etwas anders und lullt mich mit stockend vorgebrachten Urtönen in einen tiefen Dämmerschlaf.

Eben noch im schwarzen Loch und plötzlich mittendrin im bunten Leben

Dieser wird allerdings von unserer Tochter jäh unterbrochen. Sie fordert nämlich lauthals meine Meinung in Stilfragen ein. So schrecke ich aus meiner tief versunkenen Lethargie auf, weil mich unsere Zweitgeborene mit einem halluzinogenen Farbrausch konfrontiert. Dabei fällt mir plötzlich das folgende Zitat ein: “The only possibility to survive the darkness is glitzer.” Wie wahr. Eben noch im schwarzen Loch und jetzt mittendrin im bunten Leben. Denn neben dem Schreibtisch des Stenzes steht ein laufender Meter, eingehüllt in Geschmeide, das die Kraft besäße, schwache Augen zu lähmen. Ich habe das Gefühl, es ist ein bisschen so, als blicke ich in einen gleißenden Feuerball. Meine Augen müssen sich nach dem Gewahrwerden des schillernden Antlitzes unserer Tochter erst wieder an das Grau dieses tristen Novembertages gewöhnen. Eine Art Schwindel überkommt mich, der sich auch nicht bessert, indem ich “Susi isst Salami” von weit weg vernehme.

Mehr ist mehr!

Und während mein Kopf noch Karussell fährt, ist unsere Tochter der Verzweiflung nahe. Denn bei dem Versuch, ihrem Aussehen noch mehr Glamour zu verleihen, ist sie kläglich gescheitert. Das pinke Glitzer-Shirt lässt sich nämlich nicht so ohne weiteres über das dicke rosa Hasenkleid, das sie gerade trägt, stülpen. Und ihr „Bau“ (Bauch) entbehrt nun des begehrten Glitters. Mit größtem Ingrimm tut sie ihre Verzweiflung kund. Und ihr Bruder stimmt in ihr lautes Wehklagen mit folgenden Worten ein: „SO KANN ICH MICH NICHT KONZENTRIEREN!“ Die Verve, die ich bei den Leseübungen bisher etwas vermisste, offenbart sich nun im Zorn-Gebrüll beider Kinder. „Aber Mama, suche Ring!“ jammert es mir außerdem von der etwas nachlässig gekleideten und nur halbherzig glitzernden Lou entgegen. Das kann ich mir kaum vorstellen, dass einer ihrer Ringe tatsächlich verloren ging. Denn acht von ihren zehn Fingerchen erstrahlen in animalischem Glanz. Während auf dem Daumen ein furchteinflößender Löwe seine Zähne fletscht, lacht mich von ihrem Zeigefinger ein Pinguin verstohlen an. Überhaupt wären ihre Hände momentan perfekt geeignet für einen zoologischen Anschauungsunterricht. Denn beinahe jeder ihrer Finger wird von einem Tier-Ring geziert. Ihre Arme hingegen wären zur ausschweifenden Farbenlehre prädestiniert. Denn ca. 20 bis 30 bunt schillernde Armbänder mäandern sich bis hoch hinauf zu ihren Schultern. Ganz nach dem bescheidenen Motto: „Mehr ist mehr.“ Und wenn ich sie so betrachte und dieses Bild in die Zukunft extrapoliere, bin ich mir fast sicher, dass es schmucktechnisch auch in 13 Jahren nicht schlimmer werden kann.

Ich, der „Stlye-Lusa“

So ist die erste Amtshandlung unserer Tochter am Morgen, ihr gesamtes Geschmeide anzulegen. Dafür marschiert sie nach dem ersten Augenaufschlag schnurstracks zu ihrer „Kacktruhe“ (Schatztruhe) und wühlt in deren Untiefen. Wird sie hier nicht fündig, frequentiert sie einen ihrer beiden Reiseköfferchen, die ebenfalls als Aufbewahrungsort für ihr funkelndes Habe dienen. Diverse Ringe, Haarspangen und etliche Armbänder dürfen zum gelungenen Auftakt in einen glanzvollen Tag nicht fehlen. So wundere ich mich fast täglich, dass sich unser Kind unter der Zentnerlast an Klunkern überhaupt noch aufrecht halten kann. Aber wer weiß, vielleicht bin ich auch einfach nur ein „Style-Lusa“, der keine Ahnung von Mode hat?

„Mama, was ist sexy?“

Mama, was ist sexy?“ Hoppla, was ist das denn? Welch eine Frage kurz bevor meine häuslichen Pflichten sich endlich dem lang herbeigesehnten Ende neigen. Ich bin quasi nur noch wenige Zentimeter von der Zielgeraden entfernt. Beide Kinder liegen schon im Bett. Ich erwarte nur noch zwei bis 15 überschaubare Toilettengänge der Zweitgeborenen und laut verkündete Hungerattacken des Erstgeborenen. Letztere stellen sich bei uns in letzter Zeit regelmäßig genau dann ein, wenn der letzte Krümel vom Tisch gefegt und alle Kinder-Zähne ordnungsgemäß geputzt wurden. Unzählige Küss-Orgien liegen bereits hinter mir. „Mama, noch ein Bussi deben (geben) und auch die heikle Frage der Kleider-Selektion für den nächsten Tag wurde bereits ausführlichst und abschließend geklärt. Ich bin also wirklich schon fast durch für den Tag. Die nächtliche Freiheit winkt mir lächelnd entgegen, Fanfarenklänge huldigen in meiner Phantasie schon der kurzen Zeitspanne, die nur für mich reserviert ist.

Sexy darf keinesfalls hübsch sein!

Und dann so eine Frage. „Papa meint, sexy ist hübsch.“ Ja, um Gottes Willen, sexy ist auf keinen Fall hübsch. Wie kommt der Mann auf so eine blöde Antwort? Er will es schnell hinter sich bringen, er ist schon in den abendlichen Freiheits-Modus eingetaucht. Er schwimmt quasi schon in Ruhe und Frieden. Da wird er sich auch von einer solch anspruchsvollen Frage nicht mehr herausziehen lassen. Das wäre zu unbequem. Ich überlege, gehe in mich. Hübsch darf keinesfalls sexy sein. Ich sehe den Stenz schon einer seiner Lehrerinnen leise zuraunen: „Sie sind aber sexy.“ Wundervoll. Und das nur, weil der Mann aus Bequemlichkeit nicht auf feine semantische Sprachnuancen eingegangen ist. Ich will doch nicht, dass es meinem Sohn aufgrund der Lethargie seiner Eltern einmal so ergeht wie einem meiner französischen Ex-Freunde während einer Arzt-Konsultation. So erwiderte der Franzose würgend auf den ärztlichen Befehl, die Zunge herauszustrecken, damit man seine Mandeln besser sähe: „Bloß nischt, Dr. Jäger, da muss isch kotzen.“ Warum hat sich dem armen Franzosen vor mir keiner angenommen und ihm erklärt, dass „kotzen“ zwar im Zusammenhang leidiger Magisterarbeiten unter seinesgleichen als Wortwahl passend erscheinen mag,  aber nicht unbedingt bei ärztlichen Untersuchungen? Nein, so soll es dem Stenz, wenn er im zarten Alter von sechs Jahren einmal der Schönheit seiner Lehrerin huldigt nicht ergehen. Also entgegne ich auf die bedeutungsschwangere Frage meines Kindes: „Sexy ist ein großer Busen.“ Bäm. Und ich bin mir sicher, er wird sexy in absehbarer Zeit zu niemandem sagen. Ja, ich gehe sogar so weit und meine, dass er den Begriff überhaupt nie wieder in den Mund nehmen wird. Denn große Busen sind für einen Sechsjährigen alles außer hübsch und das ist auch gut so. „Iiiii und achso“ entgegnet mir der Stenz müde gähnend. Und ich jubiliere innerlich. Ich habe es geschafft. Ich bin am Ziel, gleich wird geschlafen.

Boffeln lieb ich nicht!

Aber da habe ich mich zu früh gefreut. Denn auf das Stichwort „iii“ scheint Louloubelle nur gewartet zu haben, denn plötzlich sprudelt es aus ihr heraus. Rotten (Karotten) ihhh und Boffeln (Kartoffeln) lieb ich nicht. Reis lieb ich. „Oh, Mama, ich habe Hunger“ verkündet der Stenz, der plötzlich wieder von umtriebigen Lebensgeistern zu neuer Energie geweckt wurde. Und das obwohl ich in der hitzigen sexy-Debatte doch hoffnungsfroh schon ein Gähnen erspähte. Nun gibt es wichtigeres als in die Untiefen der deutschen Sprache einzutauchen oder gar zu schlafen. Nun gilt es kurz vor 21 Uhr existenzielleren Bedürfnissen nachzukommen. „Auch Hungaaaa“ brüllt die Tochter. „Ich habe heute Mittag fast nix gegessen, denn im Hort gab es eklige Puffnudeln“ Mit diesen Worten versucht der Stenz sein Verlangen nach einer kleinen abendlichen Delikatesse zu legitimieren. „Es gab was? Puffnudeln?“ „Ja, eklige Puffnudeln mit lila Sauerkraut.“ Es hilft ja nix, müde erhebe ich mich und wanke mit beiden Kindern nach unten in die Küche, um das mittlerweile laut schreiende Hungaaaaa-Bedürfnis zu stillen und um das kulinarische Geheimnis zu lüften, das die im Hort kredenzten Puffnudeln mit lila Sauerkraut umwehen. Drei bis sieben Fruchtzwerge später weiß ich es: Es sind Schlutzkrapfen mit Rotkohl. Eigenartige Kombi, aber vielleicht ganz sexy?

Und täglich grüßt das Murmeltier

Meine Kinder sind Langschläfer. Sie schlagen hinsichtlich ihres natürlichen Biorhythmus vollkommen nach ihren Eltern. Sie werden abends unglaublich aktiv, ganz so als hätten sie in erquickendem Koffein gebadet. Aber morgens sind sie die Inkarnation von Murmeltieren im Winterschlaf. Nicht wachzukriegen. Ich weiß, dieser Umstand ist eigentlich eine Frechheit, aber ich kann Sie beruhigen, es besteht trotzdem kein Grund zum Neid. Denn der Stenz geht jetzt in die Schule und so ist es vorbei mit unserem kollektiven Winterschlaf. Um uns zu trösten, meinte meine etwas schadenfrohe Familie zu unseren unmenschlichen Weckzeiten, denen wir seit Schulbeginn ausgesetzt sind nur lapidar:  „Mensch, hört auf zu jammern, das ist doch jetzt nur für die nächsten 16 Jahre so.“ Wie wahr. 

Morgengrauen oder der frühe Morgen bringt das Grauen

Während wir in den letzten Jahren nie in den Genuss kamen, die Schönheit der aufgehenden Sonne in ihrer ganzen Farbenpracht zu bewundern, dürfen wir nun dieses einmalige Naturspektakel tagtäglich bestaunen. Aber das ist auch schon der einzige Vorteil, den ich in unserem aufoktroyierten Frühaufstehertum sehe. Doch bevor der rote Feuerball langsam über unseren Osthügel kriecht und den Himmel in ein bezaubernd kitschiges Lila-Rosa hüllt, begegnen wir erst einmal dem großen gleißenden Nichts. Oder um es mit den staunenden Worten unserer dreijährigen Tochter auszudrücken: „Mama, was das ist das swarze (schwarze) große Ding?“ Dabei zeigte sie vergangene Woche voller Verblüffung auf die alles verschluckende Dunkelheit, die draußen vor unserem Fenster wie ein gruseliges Ungetüm zu uns hineinlugte. Nun verstehe ich auch den tieferen Sinn von „Morgengrauen“ oder besser gesagt, der frühe Morgen bringt das Grauen. Morgens dunkel? Ein Paradoxon, an das sich unsere dreijährige Tochter wohl nun leider gewöhnen muss.

Von wegen, der frühe Vogel fängt den Wurm – der frühe Vogel ist müde und wird dick

Genau wie der Stenz. An seinem ersten Schultag meinte er beim Weckruf, den ich in aller Herrgottsfrühe gen Kinderzimmer trällerte nur vollkommen entgeistert: „Mama, das ist nicht Dein Ernst, dass wir jetzt jeden Morgen mitten in der Nacht aufstehen müssen! Und dann sollen wir auch noch im Dunkeln zur Schule spazieren? Das ist einfach nur furchtbar!“  Leider teile ich die Meinung des Stenzes uneingeschränkt und bin daher in Sachen motivierender Ermunterung im besagten Morgengrauen eigentlich nicht der richtige Ansprechpartner. Und während ich zu Beginn noch die glückliche Mutti mimte, die ihre Kinder mit guter Laune und einem seligen Lächeln auf den Lippen wachküsst, bin ich nun jeden Morgen leider genauso schlecht gelaunt wie der Stenz. Wer hat sich diesen Frühaufsteher-Mist bloß ausgedacht? Kein Wunder, dass die humorvolle Lehrerin unseres Sohnes nach den ersten zwei Wochen berichtete, dass ihre Erstklässler sie bereits um 8:15 Uhr nach dem baldigen Schulschluss befragen und um 8:20 Uhr die Brotzeit einläuten möchten. Bei dieser unwirtlichen Uhrzeit ist man schon nach dem Aufstehen so erschlafft, dass man gleich wieder nach Hause ins warme Bett flüchten möchte oder eben die Müdigkeit mit ganz vielen, am besten zuckersüßen Kohlenhydraten bekämpfen muss. Was eine ungesunde Lebensführung, die unweigerlich zu krankmachendem Schlafdefizit und Fettleibigkeit führt. Von wegen, der frühe Vogel fängt den Wurm, der frühe Vogel wird dick und stürzt ab.

Morgentoilette mal anders

Doch nun sind ja endlich auch in Bayern die Herbstferien gekommen und schon Wochen vor der beglückenden Auszeit hüpft mein, sich nach Schlaf verzehrendes Herz im Carré. Denn nun können die Murmeltiere wieder Murmeltiere sein und schlafen so viel sie möchten. In der Theorie. Doch die Praxis gestaltet sich leider bisweilen anders. Nämlich so, dass ich um 4:30 Uhr am ersten Ferientag das erste Mal auf die Uhr blicke, um mich zu vergewissern, dass ich bloß nicht verschlafe und mein Kind aufgrund meiner Verpenntheit irreversible Diskriminierungen erleiden muss. Um 5:30 Uhr schlafe ich endlich wieder beruhigt ein, denn es sind ja Ferien. Aber nur um um 6:30 Uhr vom Mann neben mir geweckt zu werden, der sich unruhig auf den Laken wälzt. Um 7:00 Uhr ist nicht mehr an Schlaf zu denken, da der Stenz plötzlich vor mir steht und fragt, wann wir denn endlich schwimmen gehen, jetzt wo wir doch im Wellnesshotel sind. Hey, was ist bloß mit unserem angeborenen Biorhythmus geschehen? Um 7:20 Uhr gibt nun auch die Tochter ihren qualifizierten und legitimen Morgengruß zum Besten: „Mama, Hungaaaaa!“ Nun dann! Einen Vorteil hat das frühe Aufstehen ja, der Tag ist plötzlich viel länger und man hat auf einmal sogar Zeit, kurz nach Sonnenaufgang Berge zu erklimmen.  Doch bevor die Berge rufen, warten so profane Dinge wie die Morgentoilette auf unsere Kinder. So sitzt Louloubelle auf dem Klo und wartet stolz wie Bolle auf das von uns als Chor angestimmte „Trulala“, das ihre Toilettenleistungen angemessen würdigt. Nach erfolgreichem Toilettengang und musikalischer Einlage unsererseits betätigt unsere Tochter in einem kurzen, unbeaufsichtigten Augenblick einen der vielen Knöpfe im Badezimmer und erhält eine unvorbereitete Morgendusche, die in großem, illustrem Strahl aus unserem Hightech-Klo springt. Eine Wasser-Fontäne, die unsere Zweitgeborene dermaßen erschreckt, dass sie in ein nicht enden wollendes Gebrüll verfällt und ihre nassen Haare lautstark beweint, während sich der große Bruder vor Lachen den Bauch hält und anschließend eine Runde Socken-Schlittschuh über dem glitschigen Steinboden fährt. Tja, so eine Toiletten-Intimdusche kann auch zu einem höheren Maß an  Sauberkeit auf Hotelzimmern führen – wer hätte das gedacht? Da frage ich mich tatsächlich, woher das Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund“ stammt? Aber egal, auf zum Berg – vielleicht treffen wir ja noch das ein oder andere Murmeltier, das noch keinen Winterschlaf hält.

 

Pups mich an, Du Mixer!

Heute Abend fragte uns der Stenz mit glänzenden Augen, ob wir denn das schlimmste Wort der Welt kennen würden? Wir verneinten und betonten mit Inbrunst auch kein Interesse am schlimmsten Wort der Welt zu hegen. Allerdings wurde Louloubelle sofort hellhörig. Denn bei „bösen Worten“ scheint es mir, wird ihr Gehirn plötzlich zu einem Schwamm, der innerhalb weniger Sekunden mephistophelische Bezeichnungen in sich aufsaugt, um sie dann bei passender Gelegenheit vor großem Publikum laut zum Besten zu geben. Ob wir wollten oder nicht, angefeuert durch die Neugierde seiner Schwester, schleuderte uns der Stenz mit schelmischem Eifer das schlimmste Wort der Welt entgegen: „Mixer!“ Ein großes Wort plumpste da auf unseren Tisch. „Mixer?“ fragte ich ungläubig. „Oh Gott, Mi(chs)er!“ wiederholte der Mann, auf einmal voller Abscheu. Wo hast Du denn dieses grässliche Wort aufgeschnappt? „Och, auf dem Pausenhof hat das einer geschrien.“ entgegnete der Stenz plötzlich etwas genant.  „Ja, Mixer ist wirklich furchterregend, bitte wiederhole das nie, nie wieder!“ befahl ich ihm mit autoritärem Nachdruck und zwanghaft unterdrücktem Lachen. 

„Guckst Du, Rhododendron!“

„Das ist ja noch tausendmal schlimmer als Rhododendron.“ gab ich ihm zu verstehen. Als Hintergrundinformation sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die Stenz’sche Oma einen ganz besonderen Humor besitzt. Als ihr Enkel sie das erste Mal mit einem Schimpfwort konfrontierte, erklärte sie ihm seelenruhig, dass das eigentlich gar kein so unheilvolles Wort sei, das er da gerade von sich gegeben habe. Viel verwerflicher wäre es, wenn man seine Wut mit folgendem, an Frevelhaftigkeit kaum zu überbietenden Ausdruck Luft verschaffe: „Rhododendron“. Mit hochrotem Kopf voller Zorn so ein „RHODODENDRON!“  in die Welt geschmettert, ja das hätte schon was, das wäre tatsächlich eine der wüstesten Verunglimpfungen, die man von sich geben könne. Mein Sohn war beeindruckt und begeistert zugleich. Auch wenn es ihn anfangs noch einige Mühe kostete, diesen schändlichen Ausdruck höchsten Furors auszusprechen. Aber Übung macht ja bekanntlich den Meister und nach unzähligen, etwas unverständlich genuschelten „Rodendrons“ beherrschte er das „böse Wort“ aus dem FF. Auch wenn er heute, ein paar Jahre später dahinter gekommen ist, dass ein blühender Rhododendron seine Eltern eher in Verzückung als in Bestürzung versetzt, ertappe ich ihn immer wieder, wie er mit großer Wonne seiner kleinen Schwester „Rhododendron“ ins Ohr flüstert. Nun ja, Rhododendron scheint wohl oder übel durch „Mixer“ abgelöst worden zu sein. Wobei ich eindringlich hoffe, dass er hier nicht so schnell hinter die eigentliche Diffamierung, die da heute über den Schulhof hallte, kommt.

„Moden Mama, moden!“

Sei’s drum. Auch Louloubelle hat mittlerweile ihren ganz eigenen, ausdrucksstarken Sprachduktus entwickelt, der glücklicherweise von allen, ihr nahestehenden Personen mit Leichtigkeit dechiffriert wird. Die Terminologie „Pups mich an, mehr pupsen, mehr pupsen.“ muss bei unserer Tochter unbedingt im Kontext gesehen werden. Sitzt sie nämlich auf der Schaukel, ist ihr Ausruf nicht etwa als Aufforderung an die auf der umliegenden Weide grasenden Kühe zur Freilassung von Methan-Gasen zu verstehen, sondern vielmehr als „Schubs mich man, mehr schubsen, mehr schubsen!“ zu interpretieren. Dabei sollte man ihrem Befehl unbedingt augenblicklich Folge leisten, sonst gibt es Geschrei. Denn unsere Tochter weiß im zarten Alter von fast drei Jahren ganz genau, was sie will und noch viel mehr, was sie nicht will. Auf die Frage, „Louloubelle, wann gehst Du denn endlich auf’s Töpfchen?“ erwidert sie gerne beschwichtigend: „Moden (Morgen) Mama, moden.“ Dabei tätschelt sie mir dann ganz  großväterlich und wohlwollend die Hand.

Einer Wind, einer Wind, das himmlische Kind!

Na dann, hoffen wir auf morgen und harren der Dinge, die da kommen. Ein Wind sollte auf jeden Fall nicht kommen. Denn den kann unsere Zweitgeborene nicht ausstehen. Gestern schrie sie voller Entrüstung von ihrem Kindersitz auf dem Fahrrad hinter mir: „Mama, einer Wind, einer Wind!“ und versuchte dabei ihre Haare, die ungestüm in ihr Gesichtchen flogen, wieder unter den kleinen Sturzhelm zu streichen. Als dies misslang, war sie außer sich über den einen Wind, der ihr da so unverschämt entgegen blies. Zu Hause angekommen pieselte sie bei dem Versuch stubenrein zu werden erst einmal auf’s Parkett, wickelte sich anschließend in den Vorhang ein und versuchte wohl so unsichtbar zu werden wie der eine Wind. Vor mich hin grollend schrubbte ich das Parkett als sie mir plötzlich aus ihrem Versteck hervortretend mein Handy überreichte. Verdattert nahm ich es entgegen und wurde von den optimistischen Worten unserer Kinderärztin am Handy überrascht: „Aber, aber morgen ist auch noch ein Tag, versuchen sie es morgen einfach wieder mit dem Töpfchen!“ Ja, und bis dahin gehe ich noch eine Runde schaukeln, vielleicht pupst mich ja sogar jemand an.